FALSAS
PROSPETTIVAS
Seit
Beginn dessen, was in der Kunst gemeinhin die Moderne genannt wird, geht es
fast ausschließlich um die komplexe Problematik, im Spannungsfeld von
Physiologie, Philosophie und Kunstgeschichte zu klären, wie Blick und Bild im
realem Raum zusammen kommen. Zuvor hatte es einen großen Konsens über das Verhältnis
von Bild und Raum gegeben, der sich historisch als Unterfrage konstruktiver
Mathematik entwickelt hatte und besagte, dass Raum mit
Perspektive zu tun hat und umgekehrt. Diese ältere und vertrautere Form
des Sehens existiert selbstverständlich weiter, so dass nach wie vor Raumerfahrungen
zuverlässig generiert werden können, indem man die passenden Linien in
einem Bild unterbringt. Alternativ ist der graduierte Farbauftrag möglich. Trotzdem
versteht man heute unter visuellen Räumen eigentlich selten Versuche mimetischer
Realitätsnachbildung, denn die meisten der historisch gesehen wichtigen
Funktionen des Auges wurden durch Praktiken ersetzt, in denen Bilder – und
zunehmend auch Objekte – keinen Bezug mehr zur Position des Betrachters in der
wirklichen Welt haben.[1] Letztlich ist das
Versinken in virtuellen Realitäten und Netzwerken doch mehr ein psychologischer
Vorgang als ein Akt des Sehens oder Wahrnehmens. Im Zusammenhang mit Kunst ist
daher die fortschreitende Abstraktion des Visuellen weniger als computergestützter,
technischer Wandel interessant; relevanter erscheint die dadurch ausgelöste Veränderung
in der Natur des Sehens, wie sie ähnlich radikal bisher nur im
Paradigmenwechsel des späten Mittelalters zur frühen Neuzeit stattfand, als der
spirituelle durch den mathematisch erfassbaren Raum ersetzt wurde.
Vor diesem Hintergrund kann eine Ausstellung
selbst dann, wenn die beteiligten Künstler explicit „den imaginären Raum in der Bandbreite
von digitaler Bildbearbeitung, Skulptur und Malerei“ erkunden wollen,
eigentlich nicht
vom Bildraum handeln. Ihr Thema ist vielmehr die veränderte Wahrnehmung, die
auch außerhalb des Kunstfeldes alles und jeden betrifft. Die Frage, die auf
ganz verschiedene Art in den gezeigten Arbeiten angesprochen wird, ist daher
nicht zuletzt auch die nach der Validität des Gesehenen. Dafür muss man sich
klarmachen, welche Formen und Modelle des Sehens derzeit existieren und in
welchem Umfeld Sehen überhaupt stattfindet. Welche zeitgebundenen Gewohnheiten
und Praktiken konditionieren den Raum und den darin sich aufhaltenden
Betrachter? Sieht man heute wirklich anders – wie eingangs behauptet – oder ist
nicht
die Kraft der geometrischen Perspektive
außerhalb
theoretischer Diskussionen womöglich vor dem Hintergrund vollendeter Abstraktion
zwingender als jemals zuvor?
In der Tat ist es ein Rätsel, warum
unser Blick – oft unwillkürlich - den Regeln der Perspektive gehorcht, auch
wenn wir wissen,
dass er trügt.
Wo ehemals realistische Tiefenräume abgebildet wurden, reichen heute für diesen
Effekt meist schon übereinander liegende Farbflächen oder steil aufeinander
zulaufende Linien. Umstellen ist der Versuch, verschiedene Möglichkeiten des
Nachdenkens über das Verhältnis des Raumes, in dem wir uns bewegen, und dem
Bild, das wir uns von ihm machen, aufzuzeigen.
Claudia Kuglers Arbeiten spielen mit der Wahrnehmung
digital geschulter Augen. So scheinen
die glänzenden Oberflächen ihrer Bilder auf den ersten Blick ausschließlich der
hyperrealistischen Schönheit computergenerierter Welten verpflichtet. Tatsächlich
steckt aber das originäre Interesse der Künstlerin an der analogen
Erfahrung von Materialität und dessen Verbleib im High-Definition-Bild
dahinter. Die frappierende Plastizität und Tiefe ihrer Bildräume erzeugt die
Künstlerin fast ausschließlich durch die quasi barocke Lichtführung im Bild
selber wie auch in der Inszenierung im Realraum. Dort unterstützt sie den Effekt
durch kleine optische Manierismen wie das Anschleifen der Bildrahmen, wodurch
sich das Licht dort zusätzlich brechen kann. Dadurch entwickeln die überbelichteten
Raumansichten, scharfkantigen Steinplatten und die seit einiger Zeit auftauchenden,
frei vor Farbfeldern schwebenden Buchstaben und Objekte einen höchst indifferenten
Charakter. Was anmutet wie Granit ist eben auch welcher und doch irgendwie
nicht. Was aussieht wie Bilder einer Ecke im Raum ist eben gleichzeitig selber
eine Ecke im Raum und lässt darüber hinaus den Blick auf die reale Zimmerecke
durch den Bildraum hindurch zu. Mit diesen halbtransparenten Bildvorhängen,
deren Ästhetik sich aus dem dynamischen Wechselspiel von Vorder- und
Hintergrund, Bild- und Realraum entwickelt, gelingt es der Künstlerin
endgültig, den Betrachter im Limbus zwischen Virtualität und Realität
festzuhalten.
Im Sinne einer Conditio
sine qua non ist die Ecke, Schnittstelle zwischen Boden und Wand, auch bei
Monika Brandmeier häufig diskreter Teil ihrer Skulpturen. Ohne diese für das Raumempfinden elementare Stelle kämen manche ihrer
Arbeiten nicht zustande. Die Skulpturen Plusminusnull
oder Achse blieben unvollendet; es
gäbe keinen distinktiven Schattenraum hinter dem angestellten Aluflachrohr der
grün gummierten Wandarbeit, der Plusminusnull
mit einer einfachen Geste vom Relief zur dreidimensionalen Objekt macht, auch kein
Empfinden für den kecken Ausbruch des schwächsten der drei Glieder aus dem
ansonsten klar durch die stabilen Metallrohre von Achse definierten Raumvolumen wäre möglich. Raum und Werkraum sind hier
untrennbar miteinander verflochten. Dabei lenkt die Künstlerin autoritativ
Ausschnitt und Winkel des Blicks. Doch geht es ihr weniger darum, den
analytischen Blick zu schärfen. Vielmehr liegt ihr daran, Wahrnehmung mit dem
Körper kurzzuschließen. Nicht, ohne ihn gelegentlich zu foppen, was ihrem
künstlerischen Temperament - präzise und milde ironisch - genügt. Voraussetzung
für diese von ihr angestoßenen und für die Raumwahrnehmung essentiellen Situationen
heißt für Brandmeier vor allem: „... etwas latent Vorhandenes genau zu
bestimmen und genau da einzupassen, wo es so funktioniert, wie ich es gesucht
habe. Das ist mehr als Konstruktion oder Kombination. Die Fügung, wenn sie
glückt, muss Wunder bewirken.“[2]
Ebenfalls mit dem Körper argumentieren Michaela
Zimmers Bilder. Das ist zunächst nicht unbedingt sichtbar, aber durchaus
spürbar, denn Format und Binnenstruktur der Leinwände beruhen auf Größe und
Reichweite der Künstlerin. Damit ist ein performativer Raum beschrieben, der,
da er wie Le Corbusiers Modulor den menschlichen Körper als Maßstab nimmt,
unmittelbar mit jedem Betrachter korrespondiert. Lässt man sich darauf ein,
kommt es nicht nur zur Verschmelzung von Bild- und Realraum, auch Bildträger
und Bild werden eins. Denn mangels fester Lichtquelle im Bild kollabiert die
Distanz, die den Betrachter vom Ort der optischen Erfahrung trennt. Stattdessen
gibt es eine unendliche Abfolge von Spiegelungen auf einer Unzahl von
Farbschichten. Das Spezifische dieser durch einen quasi körperlosen, schwebenden
Farbraum gekennzeichneten Leinwände ist die ihnen eingeschriebene vierte
Dimension der Zeit, die sich als Spuren des Performativen zwischen den mehrfach
geschichteten, fragmentierten Ebenen ihm eingeschriebenen hat.
Eine ganz andere Auffassung von Abstraktion vertritt Pedro Boese. Die
beiden Prinzipien seiner Bildproduktionen - formal strenge Binnenstruktur mit
äußerst reduziertem Formvokabular und luzider Farbauftrag mit starker
räumlicher Wirkung, verstärkt durch kontrollierte Zerstörungsgesten – scheinen nicht
nur einander zunächst auszuschließen, sondern halten auch den Betrachter auf
größtmöglicher Distanz. In diesen Bildern versinkt man nicht, man betrachtet
sie. Tatsächlich stellt Boese die Bedingungen des Malens - der klassische Widerspruch von Illusions-
und Realraum, die Wirkung von Form und Farbe – hinsichtlich ihrer Gültigkeit
für eine zeitgenössische Bildproduktion grundsätzlich zur Diskussion. Die
Synthese aus rationaler Ordnung und sinnlich erfahrbarer Farbschichten ist eben
nicht als Konfrontation sondern als dialektischer Beitrag zum Diskurs über die unumgängliche Illusion von Räumlichkeit, selbst in vollkommen
monolithisch bemalten Bildflächen, gemeint. Unter
diesem Blickwinkel erscheint die Malerei von Pedro Boese wie eine Reflektion
internationaler Moderne auf sich selbst.
Eine ähnliche Haltung nehmen die Bilder von Anja Schwörer
ein, die auf radikale Weise die starre Dichotomie von Abstraktion und Körperlichkeit in Frage stellen.
Die Künstlerin fand in der experimentellen Erforschung textiler
Oberflächen ein mindestens adäquates wenn nicht gar überlegenes Mittel die alten
Fragen der Malerei neu zu stellen. Ihre Instrumente sind Tusche, Wachs, vor
allem Bleiche, aber auch Nadel und Faden. Einzelne Schritte und Methoden der
Bildfindung mögen von Bild zu Bild unterschiedlich sein, ihnen gemein jedoch
ist ein außergewöhnliches Changieren der
Räumlichkeit, das zwischen kaleidoskopischen Bildräumen mit kristallscharfen
Ecken, real im Stoff fixierten Falten und eigenartig hinter flachen, monochromen
Mustern und Stoffcollagen verborgenen Illusionsräumen oszilliert. Offensichtlich
versteht Schwörer Malerei nicht als Medium, sondern als Gegenstand und
Ausgangsmaterial. Daher ist es nicht einfach - vielleicht aber auch nicht so wichtig –
sich in der Verschmelzung von Bild und Bildträger, Illusionsraum und Material darüber zu verständigen,
wo das eine endet und das andere beginnt. Da sie nicht zu isolieren sind, müssen
wir uns wohl mit dem Umstand abfinden, dass Signifikat und Signifikant untrennbar
verwoben bleiben. Eine Vorstellung, die sich im Grunde auf Duchamp zurück
verfolgen lässt.
Susanne
Prinz