Montag, 4. November 2013

umstellen


FALSAS PROSPETTIVAS

Seit Beginn dessen, was in der Kunst gemeinhin die Moderne genannt wird, geht es fast ausschließlich um die komplexe Problematik, im Spannungsfeld von Physiologie, Philosophie und Kunstgeschichte zu klären, wie Blick und Bild im realem Raum zusammen kommen. Zuvor hatte es einen großen Konsens über das Verhältnis von Bild und Raum gegeben, der sich historisch als Unterfrage konstruktiver Mathematik entwickelt hatte und besagte, dass Raum mit Perspektive zu tun hat und umgekehrt. Diese ältere und vertrautere Form des Sehens existiert selbstverständlich weiter, so dass nach wie vor Raumerfahrungen zuverlässig generiert werden können, indem man die passenden Linien in einem Bild unterbringt. Alternativ ist der graduierte Farbauftrag möglich. Trotzdem versteht man heute unter visuellen Räumen eigentlich selten Versuche mimetischer Realitätsnachbildung, denn die meisten der historisch gesehen wichtigen Funktionen des Auges wurden durch Praktiken ersetzt, in denen Bilder – und zunehmend auch Objekte – keinen Bezug mehr zur Position des Betrachters in der wirklichen Welt haben.[1] Letztlich ist das Versinken in virtuellen Realitäten und Netzwerken doch mehr ein psychologischer Vorgang als ein Akt des Sehens oder Wahrnehmens. Im Zusammenhang mit Kunst ist daher die fortschreitende Abstraktion des Visuellen weniger als computergestützter, technischer Wandel interessant; relevanter erscheint die dadurch ausgelöste Veränderung in der Natur des Sehens, wie sie ähnlich radikal bisher nur im Paradigmenwechsel des späten Mittelalters zur frühen Neuzeit stattfand, als der spirituelle durch den mathematisch erfassbaren Raum ersetzt wurde.

Vor diesem Hintergrund kann eine Ausstellung selbst dann, wenn die beteiligten Künstler explicit „den imaginären Raum in der Bandbreite von digitaler Bildbearbeitung, Skulptur und Malerei“ erkunden wollen, eigentlich nicht vom Bildraum handeln. Ihr Thema ist vielmehr die veränderte Wahrnehmung, die auch außerhalb des Kunstfeldes alles und jeden betrifft. Die Frage, die auf ganz verschiedene Art in den gezeigten Arbeiten angesprochen wird, ist daher nicht zuletzt auch die nach der Validität des Gesehenen. Dafür muss man sich klarmachen, welche Formen und Modelle des Sehens derzeit existieren und in welchem Umfeld Sehen überhaupt stattfindet. Welche zeitgebundenen Gewohnheiten und Praktiken konditionieren den Raum und den darin sich aufhaltenden Betrachter? Sieht man heute wirklich anders – wie eingangs behauptet – oder ist nicht die Kraft der geometrischen Perspektive außerhalb theoretischer Diskussionen womöglich vor dem Hintergrund vollendeter Abstraktion zwingender als jemals zuvor?

In der Tat ist es ein Rätsel, warum unser Blick – oft unwillkürlich - den Regeln der Perspektive gehorcht, auch wenn wir wissen, dass er trügt. Wo ehemals realistische Tiefenräume abgebildet wurden, reichen heute für diesen Effekt meist schon übereinander liegende Farbflächen oder steil aufeinander zulaufende Linien. Umstellen ist der Versuch, verschiedene Möglichkeiten des Nachdenkens über das Verhältnis des Raumes, in dem wir uns bewegen, und dem Bild, das wir uns von ihm machen, aufzuzeigen.

Claudia Kuglers Arbeiten spielen mit der Wahrnehmung digital geschulter Augen.  So scheinen die glänzenden Oberflächen ihrer Bilder auf den ersten Blick ausschließlich der hyperrealistischen Schönheit computergenerierter Welten verpflichtet. Tatsächlich steckt aber das originäre Interesse der Künstlerin an der analogen Erfahrung von Materialität und dessen Verbleib im High-Definition-Bild dahinter. Die frappierende Plastizität und Tiefe ihrer Bildräume erzeugt die Künstlerin fast ausschließlich durch die quasi barocke Lichtführung im Bild selber wie auch in der Inszenierung im Realraum. Dort unterstützt sie den Effekt durch kleine optische Manierismen wie das Anschleifen der Bildrahmen, wodurch sich das Licht dort zusätzlich brechen kann. Dadurch entwickeln die überbelichteten Raumansichten, scharfkantigen Steinplatten und die seit einiger Zeit auftauchenden, frei vor Farbfeldern schwebenden Buchstaben und Objekte einen höchst indifferenten Charakter. Was anmutet wie Granit ist eben auch welcher und doch irgendwie nicht. Was aussieht wie Bilder einer Ecke im Raum ist eben gleichzeitig selber eine Ecke im Raum und lässt darüber hinaus den Blick auf die reale Zimmerecke durch den Bildraum hindurch zu. Mit diesen halbtransparenten Bildvorhängen, deren Ästhetik sich aus dem dynamischen Wechselspiel von Vorder- und Hintergrund, Bild- und Realraum entwickelt, gelingt es der Künstlerin endgültig, den Betrachter im Limbus zwischen Virtualität und Realität festzuhalten.

Im Sinne einer Conditio sine qua non ist die Ecke, Schnittstelle zwischen Boden und Wand, auch bei Monika Brandmeier häufig diskreter Teil ihrer Skulpturen. Ohne diese für das Raumempfinden elementare Stelle kämen manche ihrer Arbeiten nicht zustande. Die Skulpturen Plusminusnull oder Achse blieben unvollendet; es gäbe keinen distinktiven Schattenraum hinter dem angestellten Aluflachrohr der grün gummierten Wandarbeit, der Plusminusnull mit einer einfachen Geste vom Relief zur dreidimensionalen Objekt macht, auch kein Empfinden für den kecken Ausbruch des schwächsten der drei Glieder aus dem ansonsten klar durch die stabilen Metallrohre von Achse definierten Raumvolumen wäre möglich. Raum und Werkraum sind hier untrennbar miteinander verflochten. Dabei lenkt die Künstlerin autoritativ Ausschnitt und Winkel des Blicks. Doch geht es ihr weniger darum, den analytischen Blick zu schärfen. Vielmehr liegt ihr daran, Wahrnehmung mit dem Körper kurzzuschließen. Nicht, ohne ihn gelegentlich zu foppen, was ihrem künstlerischen Temperament - präzise und milde ironisch - genügt. Voraussetzung für diese von ihr angestoßenen und für die Raumwahrnehmung essentiellen Situationen heißt für Brandmeier vor allem: „... etwas latent Vorhandenes genau zu bestimmen und genau da einzupassen, wo es so funktioniert, wie ich es gesucht habe. Das ist mehr als Konstruktion oder Kombination. Die Fügung, wenn sie glückt, muss Wunder bewirken.“[2]

Ebenfalls mit dem Körper argumentieren Michaela Zimmers Bilder. Das ist zunächst nicht unbedingt sichtbar, aber durchaus spürbar, denn Format und Binnenstruktur der Leinwände beruhen auf Größe und Reichweite der Künstlerin. Damit ist ein performativer Raum beschrieben, der, da er wie Le Corbusiers Modulor den menschlichen Körper als Maßstab nimmt, unmittelbar mit jedem Betrachter korrespondiert. Lässt man sich darauf ein, kommt es nicht nur zur Verschmelzung von Bild- und Realraum, auch Bildträger und Bild werden eins. Denn mangels fester Lichtquelle im Bild kollabiert die Distanz, die den Betrachter vom Ort der optischen Erfahrung trennt. Stattdessen gibt es eine unendliche Abfolge von Spiegelungen auf einer Unzahl von Farbschichten. Das Spezifische dieser durch einen quasi körperlosen, schwebenden Farbraum gekennzeichneten Leinwände ist die ihnen eingeschriebene vierte Dimension der Zeit, die sich als Spuren des Performativen zwischen den mehrfach geschichteten, fragmentierten Ebenen ihm eingeschriebenen hat.

Eine ganz andere Auffassung von Abstraktion vertritt Pedro Boese. Die beiden Prinzipien seiner Bildproduktionen - formal strenge Binnenstruktur mit äußerst reduziertem Formvokabular und luzider Farbauftrag mit starker räumlicher Wirkung, verstärkt durch kontrollierte Zerstörungsgesten – scheinen nicht nur einander zunächst auszuschließen, sondern halten auch den Betrachter auf größtmöglicher Distanz. In diesen Bildern versinkt man nicht, man betrachtet sie. Tatsächlich stellt Boese die Bedingungen des Malens  - der klassische Widerspruch von Illusions- und Realraum, die Wirkung von Form und Farbe – hinsichtlich ihrer Gültigkeit für eine zeitgenössische Bildproduktion grundsätzlich zur Diskussion. Die Synthese aus rationaler Ordnung und sinnlich erfahrbarer Farbschichten ist eben nicht als Konfrontation sondern als dialektischer Beitrag zum Diskurs über die unumgängliche Illusion von Räumlichkeit, selbst in vollkommen monolithisch bemalten Bildflächen, gemeint. Unter diesem Blickwinkel erscheint die Malerei von Pedro Boese wie eine Reflektion internationaler Moderne auf sich selbst.

Eine ähnliche Haltung nehmen die Bilder von Anja Schwörer ein, die auf radikale Weise die starre Dichotomie von Abstraktion und Körperlichkeit in Frage stellen. Die Künstlerin fand in der experimentellen Erforschung textiler Oberflächen ein mindestens adäquates wenn nicht gar überlegenes Mittel die alten Fragen der Malerei neu zu stellen. Ihre Instrumente sind Tusche, Wachs, vor allem Bleiche, aber auch Nadel und Faden. Einzelne Schritte und Methoden der Bildfindung mögen von Bild zu Bild unterschiedlich sein, ihnen gemein jedoch ist ein außergewöhnliches Changieren der Räumlichkeit, das zwischen kaleidoskopischen Bildräumen mit kristallscharfen Ecken, real im Stoff fixierten Falten und eigenartig hinter flachen, monochromen Mustern und Stoffcollagen verborgenen Illusionsräumen oszilliert. Offensichtlich versteht Schwörer Malerei nicht als Medium, sondern als Gegenstand und Ausgangsmaterial. Daher ist es nicht einfach  - vielleicht aber auch nicht so wichtig – sich in der Verschmelzung von Bild und Bildträger, Illusionsraum und Material darüber zu verständigen, wo das eine endet und das andere beginnt. Da sie nicht zu isolieren sind, müssen wir uns wohl mit dem Umstand abfinden, dass Signifikat und Signifikant untrennbar verwoben bleiben. Eine Vorstellung, die sich im Grunde auf Duchamp zurück verfolgen lässt.
Susanne Prinz





[1] Jonathan Crary, Techniken des Betrachters: Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden, Basel 1996
[2] Aus einem Interview von Anne Haun-Efremides mit Monika Brandmeier, artnet 10.5.2010, http://www.artnet.de/magazine/interview-mit-monika-brandmeier/